Kandiszucker

Als meine Mutter ein kleines Mädchen war, wohnte sie mit ihren Eltern und Geschwistern neben dem Pfarrhaus. Und weil sie anders war als ihre Geschwister, und wohl auch anders, als ihre Eltern sie gerne gehabt hätten, verbrachte sie viel Zeit bei dem Pfarrer und Frau Pfeiffer, seiner Haushälterin. Denn hier konnte man ihr geben, woran es ihr daheim mangelte: das Gefühl, so geliebt zu werden wie sie war. Als meine Eltern sich kennenlernten, da war das wieder eine dieser Geschichten, mit denen meine Großeltern nichts anfangen konnten. Mein Vater war fast zwanzig Jahre älter als meine Mutter, das gefiel ihnen ebenso wenig wie sie seinen Beruf mochten. Denn nun, wo sie ihrer Tochter entgegen der eigenen Wertvorstellung das Abitur erlaubt hatten und ihr Studium mitfinanziert, hätte es doch wenigstens auch ein Studierter sein können!

Stattdessen einer, der so viel älter war als sie, zwar gutes Geld verdiente, dabei aber keinen Arztkittel und keine Richterrobe trug. Noch dazu war er geschieden, Vater von zwei Kindern – und zu allem Übel evangelisch… Im Pfarrhaus wurde die Beziehung hingegen begrüßt, denn der Pfarrer und seine Haushälterin erkannten in einer einzigen Umarmung das goldene Herz meines Vaters und seine unverwüstliche Liebe zu meiner Mutter. Der Pfarrer traute meine Eltern und taufte mich und meine Schwester und Frau Pfeiffer wurde meine Patin, meine „Tante Hanna“. Sie gehörten zu meiner gefühlten Familie, so lange ich mich zurückerinnern kann. Anfang der 80er Jahre zogen die beiden nach Bad Reichenhall und fortan wurden meine Kindergeburtstage magisch: durch die Pakete von Tante Hanna.

Jedes seiner Stücke sah anders aus und er verklebte feucht meine Hände. (Foto: Katharina Bregulla/pixelio.de)

Jedes seiner Stücke sah anders aus und er verklebte feucht meine Hände. (Foto: Katharina Bregulla/pixelio.de)

Man muss sich das einmal vorstellen, ich bekam an mich adressierte Päckchen, noch bevor ich das erste Mal eine Schule betrat! Die wundervolle Briefe, große Geheimnisse und kleine Köstlichkeiten enthielten, und die vor allem – und das war vielleicht das Beste – immer genau am richtigen Tag ankamen. Nie zu früh – und erst recht nie zu spät. Und in keinem anderen Moment des Jahres fühlte ich mich so bezaubernd speziell wie dann, wenn ich den Klebestreifen abzog, der den Adressaufkleber mit meinem Namen in zwei Teile riss. Meine Tante Hanna war gut darin, Menschen mit kleinen Gesten zu vermitteln, dass sie etwas ganz Besonderes waren – das hatte vor Jahren schon meine Mutter zu ihr hingezogen.

Einmal im Jahr fuhren wir mit der ganzen Familie nach Bad Reichenhall. Ich liebte diese Kurzurlaube, alles daran war spannend und aufregend für mich und meine kleine Schwester. Das Hotel, in dem wir abstiegen, der Zigarrenladen, den der Hotelier nebenher betrieb. Die schneebedeckten Berge, auf die wir zufuhren, die immer größer wurden, je näher wir dem fernen Land „Bayern“ kamen. Und natürlich Tante Hanna und Onkel Anton – so hieß uns der alte Pfarrer längst. Das Haus, in dem die beiden wohnten, war riesengroß und roch nach Bohnerwachs. Die Stufen, die wir zwei und zwei erklommen, knarrten unter unseren kleinen Füßen, wie wir es sonst nur aus Filmen kannten – und das, obwohl sie weich waren und fluffig, von dem dicken, roten Teppich, der das alte Holz verdeckte. Die Wohnung von Tante Hanna und Onkel Anton hatte Decken, so hoch, wie ich es sonst nie zuvor gesehen hatte. Im Flur war es dunkel und geheimnisvoll und ihr altes Telefon war weich und grün eingekleidet.

Das Beste an der Wohnung aber war die kleine Speisekammer neben der Küche. Dort gab es verbotene Köstlichkeiten, die ich von Zuhause nicht kannte. Besonders liebte ich den Kandiszucker und fand, er war magisch. Er schimmerte wie Bernstein, wenn man ihn gegen das Licht hielt, das durch ein kleines Fenster unter der Decke in die Kammer fiel. Und er war von einer hellen Schicht bedeckt, die man lutschen konnte. Jedes seiner Stücke sah anders aus: es gab große und kleine, schmale und breite und wieder andere waren fast rund. Er verklebte feucht meine Hände, wenn ich mir mehr als das eine, erlaubte Stück davon in die Taschen lud, und ihn dort immer wieder, heimlich, mit meinen Fingern betastete. Und er erinnerte mich noch Tage nachdem wir wieder daheim waren an die zauberhaften Besuchstage, wenn ich ihn in Hosen- und Jackentaschen wiederfand.

Wenn Tante Hanna mich sah, rief sie immer „Goti!“, das war wohl bayerisch, dachte ich, sicher war nur, es hieß „mein Patenkind“. In ihrem Schlafzimmer hing das schwarz-weiß Foto eines jungen Mannes: ihr Zwillingsbruder, der nicht aus dem Krieg zurückgekehrt war. Wenn sie davon sprach sah sie, deren Gesicht sonst immer warm und froh strahlte, plötzlich sehr traurig aus. Aber das passierte nicht oft, denn Tante Hanna redete nicht gerne über sich. Sie war eine kleine, runde Frau mit langen, weißen Haaren, die sie immer zu einem Dutt aufrollte. Einmal durfte ich dabei zusehen, wie sie diesen löste, und ihre Haare waren noch viel länger, als ich es mir immer vorgestellt hatte. Als ich älter wurde, wuchs ich ihr zweimal über den Kopf. Wenn ich sie nun in den Arm nahm, konnte ich meine Nase in ihrem Dutt reiben, da lachte sie und sagte, „ah geh‘, moi Haar’n, Goti!“. Wenn wir uns von ihr verabschiedeten, dann strahlte sie über das ganze Gesicht, winkte und rief „Pfierti!“, das ist auch bayerisch, für: „Tschüß, und passt auf euch auf, meine Lieben!“

Die Liebe, die sie gab, ging keine Umwege, stellte keine Bedingungen. Ihre Fürsorge sprudelte warm und tröstlich. Die Stunden mit ihr leuchten wie kleine Sterne im Erinnerungshimmel meiner Kindheit: Danke für alles, was du gegeben hast, was ich von deinem Herzen lernen durfte. Und danke für den magischen Kandiszucker…

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